Borreliose: Eine heimtückische Infektionskrankheit als ethische Herausforderung für Ärzte, Patienten, soziales Umfeld und Gesellschaft

von
Dr. A. Püttmann, Bonn

"Borreliose tötet nicht, sie nimmt das Leben", sagt eine ältere Patientin in der Paracelsusklinik Hannover, einem Therapiezentrum für diese durch Zeckenbisse verursachte gefährliche Infektionskrankheit, an der in Deutschland jährlich zwischen 60.000 und 80.000 Menschen neu erkranken. Im Frühstadium der ersten Tage oder Wochen erkannt, ist sie bei ausreichender (ca. dreiwöchiger) antibiotischer Behandlung zu 100 Prozent heilbar, im Spätstadium nach Monaten oder Jahren in etwa jedem fünften Fall nicht mehr. Die Folge: in Art und Schwere unterschiedliche Schädigungen des zentralen und peripheren Nervensystems, der Gelenke, der Haut und des Bindegewebes, innerer Organe sowie der Psyche, bis hin zu drastischen Persönlichkeitsveränderungen. Die F.A.Z. apostrophierte die Borreliose kürzlich gar als "Geisteskrankheit". Manche Patienten sterben (etwa an Herzversagen) bzw. leben wesentlich kürzer, andere gehen einen langen und beschwerlichen Leidensweg, einige landen im Rollstuhl oder in der Psychiatrie. Viele verlieren ihre Arbeitsstelle und sind zur Frühverrentung gezwungen. Soziale Beziehungen zerbrechen unter der Dauerbelastung oder schlicht aufgrund der schwindenden Aktivitäten des Kranken. Kurzum: Borreliose kann auf verschiedene Weise zu einem "Abschied vom Leben" werden.

Symptomatisch ähneln die meisten chronischen Fälle der multiplen Sklerose (häufige Fehldiagnose), bakteriologisch ist die Borreliose der Syphilis vergleichbar: die schraubenförmigen Bakterien (Spirochäten) können sich überall im Körper festsetzen, vorwiegend in schlecht durchblutetem Gewebe, wo sie von Antibiotika und dem körpereigenen Immunsystem schlecht erreicht werden. Nach langen Latenzphasen können Schübe das Krankheitsbild dramatisch verschlechtern, insbesondere bei Überwindung der Blut-Hirnschranke. Die frühen Symptome (Hautrötungen - nicht immer! -, Fieber, Schweißausbrüche, Schwäche, Müdigkeit) sind relativ unspezifisch und leicht zu übersehen bzw. zu übergehen. Sie werden auch von Ärzten oft falsch gedeutet: grippaler Infekt, Erschöpfung, Kreislaufschwäche, Depression, Hypochondrie. In ihrer Verwechselbarkeit und ihrem meist schleichenden Verlauf liegt die besondere Heimtücke dieser Krankheit.

Doch von den medizinischen Aspekten soll hier nicht hauptsächlich die Rede sein, auch nicht von den vielen Fällen frühzeitiger Diagnose und kurzfristiger Heilung. Wer eine langwierig verlaufende oder chronische Borreliose am eigenen Leib und in der eigenen Seele durchlitten hat, bei dem keimt nicht selten Empörung über Ärzte und Krankenkassenvertreter, aber auch Familienmitglieder, Kollegen und so manche "Freunde". Denn es dürfte wenige Krankheiten geben, die so hohe ethische Anforderungen an menschliche Einfühlsamkeit, kluges Differenzierungsvermögen, ärztliches Berufsethos und praktische Solidarität stellen wie diese. Die Pathologie kennt zwar erschreckendere Namen und höhere Sterblichkeitsraten - Krebs, Aids, MS -, doch der subjektive und objektive Leidensdruck dürfte bei vielen chronisch Borreliosekranken ähnlich sein, schon weil sie zu allem Schaden auch noch permanent um die "Anerkennung" ihrer Erkrankung und die richtige Behandlung bzw. deren Finanzierung kämpfen müssen. Dies wiederum hängt zusammen mit der relativ späten Entdeckung (1981) und unzureichenden Erforschung der Borreliose, ihrer geringen Bekanntheit, ihrer noch recht unsicheren Diagnostik und Therapie und vor allem ihrem unspezifischen Erscheinungsbild: "Man sieht Dir aber nichts an" - "Schlapp fühl' ich mich auch öfters" - "Ich bin doch auch schon von Zecken gebissen worden" - "Das kriegt man doch nur in Süddeutschland" - "Es kommt nur auf die richtige innere Einstellung an" .... Mit solch ignoranten bzw. im schlimmsten Sinne "wohlmeinenden" Äußerungen dauernd konfrontiert zu werden (wogegen schon das bloße Wort "Krebs" die Umgebung mitfühlend erschaudern lässt), gehört zum täglichen, kräftezehrenden Kampf vieler Borreliosekranker, welche die Schwere der Krankheit mit jeder Faser ihres Körpers spüren und sie ihrer Umwelt doch nicht kommunizieren oder sinnfällig "beweisen" können - jedenfalls bis sich die drastischsten körperlichen Symptome (Lähmungen) oder nuklearmedizinisch darstellbare Entzündungsherde in Gehirn oder Rückenmark eingestellt haben. Bei manchem ist die Verzweiflung über das Unverständnis der Umgebung oder ärztliche Inkompetenz schon so groß, dass er sich solche "Beweise" fast schon herbei wünscht.
 

Versagen ärztlicher Kompetenz und Berufsethik

Nur jeder dritte Arzt in Deutschland besitzt laut einer Medizinerumfrage Grundkenntnisse über Borreliose. Kein Wunder: Die heute über 50jährigen haben in ihrer Ausbildung über diese Krankheit schon gar nichts gelernt. Und wenn die Kalkulation stimmt, dass ein Internist für die Fortbildung über alle in sein Fachgebiet fallenden Krankheiten allein 36 Wochenstunden Lesezeit investieren müsste, um "à jour" zu sein, dann scheint die Entschuldigung für diagnostisches und therapeutisches Versagen auf der Hand zu liegen: Das kann bei vollen Wartezimmern und zunehmender bürokratischer Gängelei niemand leisten! Also fällt die Fortbildung wohl bei den meisten weg oder erschöpft sich in Lustreisen oder Luxusdiners mit Pharmafirmen zum Promoten eines neuen Medikaments. Im Ergebnis verfügt mancher Arzt nur über ein Standardrepertoire der vielleicht 50 häufigsten Krankheiten seines Fachgebiets; wer mit einem selteneren Leiden kommt, hat schlechte Aussichten auf eine zutreffende Diagnose und die richtige Therapie. Da kein Fachmann gern Ratlosigkeit eingesteht, werden unklare Fälle oft nicht weiter überwiesen oder bis zu einem Konsil beim Kollegen bzw. eigener Recherche vertagt, sondern mit einer Standarddiagnose - Hauptsache Rezept - nach den üblichen zehn Minuten (bei Privatpatienten dürfen's auch zwanzig sein) aus dem Sprechzimmer "entsorgt".

So wundert es nicht, dass fast alle Borreliosekranken bis zur richtigen Diagnose eine Odyssee durch Arztpraxen hinter sich und die Chance auf kurzfristige Heilung bereits verloren hatten. Der Autor selbst suchte mit (anfänglichem) Fieber, Hautrötungen, Schwäche, Husten und Knochenschmerzen zwischen Mai und November 2001 vier Internisten und einen Allgemeinmediziner - darunter hochbetitelte und klingende Namen der Medizinerszene zweier Universitätsstädte - auf, um mit den Fehldiagnosen Grippaler Infekt, Allergie, Bronchitis, vegetative Dystonie und (unausgesprochen) Hypochondrie - "Trinken Sie mal ein gutes Weizenbier und treiben mehr Sport" - nach Hause geschickt zu werden. Derweil breiteten sich die Borrelien in seinem Körper weiter aus und passierten nach einer Grippeimpfung und Salmonelleninfektion schließlich die Blut-Hirn-Schranke. Selbst die dann manifest werdenden neurologischen Störungen (u.a. plötzliche Ertaubung der Finger nachts, Schmerzen im/unterm Brustbein) wurden noch falsch mit Haltungsschäden erklärt und mit Massagen behandelt.

Doch auch ein stürmischer Verlauf mit frühzeitigen Lähmungen oder Sehstörungen garantiert nicht diagnostische Treffsicherheit. Ein Drittel der im Mai 2002 in der Hannoverschen Paracelsusklinik behandelten Patienten hatte zunächst die Fehldiagnose "MS" erhalten und wurde zum Teil schon mit Kortison (bei Borreliose kontraindiziert!) behandelt, bevor man sie auf eine Borrelien-Infektion getestet hatte. Dabei zählt die Borreliose in der Neurologie zweifellos zu jenen 50 häufigsten Krankheiten, die selbst ein beschränkter diagnostischer Blickwinkel abdecken müßte.

Noch unwahrscheinlicher scheint aber eine symptomschwache Neuroborreliose von Neurologen (an)erkannt zu werden, weil sich gerade in ihrem Fach die technizistische bzw. empiristische Versuchung der Schulmedizin unheilvoll auswirkt: in der Vorstellung, alles Pathologische im menschlichen Körper durch Messung, Anschauung oder Abbildung nachweisen zu können. So wurde ein Patient von drei Neurologen, darunter einem Privatdozenten eines renommierten Universitätsinstituts auf Neuro-Borreliose untersucht, in dem er zum Beispiel durchs Zimmer hüpfen, die Finger bei geschlossenen Augen zur Nasenspitze führen und jede Menge Elektroschocks zur Messung der Reizleitung in Armen und Beinen über sich ergehen lassen musste. Mangels meß- oder sichtbarer Ausfallerscheinungen wurde eine Borreliose in Abrede gestellt, zumal nach einer - sechs Monate zurückliegenden - Punktion auch keine Veränderung des Liquors ersichtlich war (was jedoch durchaus häufig und kein Ausschlusskriterium für eine zerebrale Beteiligung bei Borreliose ist) und eine "Kernspin" des Gehirns keine Entzündungsherde zeigte. Die im Anamnesegespräch berichteten Schmerzen in Brust- und Schienbein, Taubheitsgefühle und Kribbeln in Fingern, Armen und Händen, Glieder- und Körperzuckungen, Schlafstörungen und Atemstillstände (Apnoe) sowie die zur gleichen Zeit aufgetretenen Depressionen, Angstzustände und Panikattacken, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen fielen demgegenüber diagnostisch nicht ins Gewicht bzw. wurden orthopädisch oder psychogen erklärt. "Kein Hinweis auf Neuroborreliose. Ich rate von weiterer Therapie ab. Gehen Sie besser wieder arbeiten". So werden Kranke entmündigt und Genesungschancen verpasst. Spätestens seit unter einer zweiten und längeren antibiotischen Infusionstherapie bei einem der wenigen deutschen Borreliose-Spezialisten, Dr. Joachim Ledwoch (Hannover), die psychischen und mentalen Störungen des Patienten binnen weniger Tage und die körperlichen Missempfindungen allmählich verschwanden, waren die drei nervenärzlichen Begutachtungen ad absurdum geführt: "außer Spesen nix gewesen".

Besonders tückisch in der Borreliose-Therapie sind die "Restbeschwerden". Tatsächlich können bestimmte Symptome noch Monate oder gar Jahre nach Beendigung der Infektion bestehen bleiben, da sich Nervenzellen - wenn überhaupt - nur sehr langsam regenerieren und der Körper insgesamt durch Krankheit und Therapie geschwächt ist. Zudem sinkt der Antikörpertiter im Blut meist erst nach etwa einem halben Jahr deutlich und die sogenannten "Banden" im Westernblot verschwinden manchmal erst lange nach dem Ende der Infektion. Folglich kann mindestens monatelang nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob es sich um Zeichen weiterer Borrelien-Aktivität oder nur um "Serumnarben" handelt. Wäre ersteres der Fall, müsste man aber einen erneuten Therapiezyklus mit veränderter Medikation, Dosierung oder Dauer in Betracht ziehen, um ein Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Immer wieder werden jedoch Patienten von Ärzten, die das Scheitern der von ihnen verordneten Therapie nicht eingestehen wollen, als geheilt, "austherapiert" oder als psychosomatischer Fall deklariert; dabei dürfte das Arzneimittelbudget bei Kassenpatienten im Hintergrund eine Rolle spielen. Manche Kassen verweigern schlicht die Fortsetzung bzw. Wiederholung einer teuren Infusionstherapie, so dass Borreliosepatienten regelrecht um diese Behandlung betteln müssen.

Erschrocken von soviel Ignoranz und Arroganz und angesichts des Versagens zu später oder zu kurzer Antibiosen (die richtliniengemäßen 2-3 Wochen reichen nämlich oft nicht), wenden sich viele Borreliosekranke irgendwann Heilpraktikern zu. Diese erklären Antibiotika regelmäßig zu Teufelszeug, haben aber selbst außer Immunstimulanz-Therapien (v.a. Eigenblutinjektionen, "Sanum"-Therapie, Darmsanierung, Vitaminergänzungspäparate) nicht viel anzubieten. Diese sind als Begleitbehandlung bei Borreliose grundsätzlich sinnvoll, können aber auch (wie "Echinacin") aus der Infektion erwachsende Autoimmunprozesse gefährlich verstärken. Generell gilt: Bei so schweren Krankheiten wie Borreliose ist einfach "kein Kraut" gegen den Erreger gewachsen. Das musste etwa ein Borreliosepatient erfahren, der in einer Klinik für Chinesische Medizin fünf Wochen mit Kräuterdekokten und Akupunktmassagen "therapiert" wurde, ohne dass sich sein Zustand wesentlich verbessert hätte. Im Entlassungsbericht fanden die frustrierten Naturheilkundler nur den Ausweg, den Patienten unverschämterweise zum Hypochonder zu erklären: "Leidet sehr an der Vorstellung einer aktiven Borreliose". Ein beim Spezialisten veranlasster Lymphozytentransformationstest ergab kurz darauf: "starke Aktivität gegen alle drei Borrelienstämme weist auf aktive Borrelieninfektion hin".

Die rechtzeitige Erkennung und richtige Behandlung der Borreliose leidet somit nicht nur an fehlender Fortbildung, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vieler Ärzte, sondern auch an fachideologischer Voreingenommenheit und Beschränktheit von Internisten, Neurologen und Naturheilkundlern, die nicht zu einer schablonenfrei patientengerechten Anamnese und integrativen Therapie mit bakterioziden und immunstärkenden, schul- und alternativmedizinischen Mitteln fähig und bereit sind. Tugendethisch gesprochen fehlt es wohl an der nötigen Demut vor der ärztlichen Herausforderung durch eine komplexe Krankheit, welche wie vielleicht wenige andere Lernbereitschaft, Patientenorientierung und ggf. kollegial koordiniertes Vorgehen verlangt. Völlig unnötig wird dem Patienten eine ärztliche Souveränität vorgegaukelt, wo tatsächlich vorsichtiges Abwägen, Nachfragen und auch das Eingeständnis eigener Kompetenzgrenzen ehrlicher wäre. Schließlich gibt es bei jeder Krankheit mindestens zwei Experten: den Arzt mit seinem Fachwissen und den Patienten mit seiner Körperwahrnehmung. Dies wird von manchen "Göttern in weiß" offenbar kognitiv und habituell verkannt. Hat sich der Arzt geirrt - wie in den vielen Fällen einer versäumten Borreliosediagnose oder einer unzureichenden Therapie -, ist dies für ihn nur eine ärgerliche oder peinliche Episode, die ein wenig am "Ego" kratzen mag, aber morgen wieder vergessen ist; für den Patienten bedeutet der Irrtum womöglich ein ruiniertes Leben.
 

Fehlreaktionen des sozialen Umfelds

Aufgrund einer Reihe von Besonderheiten ihres Leidens erleben Borreliosekranke auch in ihrem sozialen Umfeld fast regelmäßig Schwierigkeiten und Enttäuschungen:

1. Die (zunächst häufige) Unsichtbarkeit und Unkenntnis der Krankheit erleichtert Missverständnisse und Verdächtigungen. Zum Schaden des körperlichen Leidens kommt der Spott der "Hypochondrie".

2. Die meist lange Dauer der Krankheit und erst recht ihre Chronifizierung belastet die familiären, sozialen und ggf. beruflichen Beziehungen.

3. Die psychischen Symptome - Depression, Angstzustände, Überreaktionen, Aggressivität - verstärken noch die Gefahr des Unverständnisses und der Isolation.

4. Durch körperliche und ggf. auch mentale Beeinträchtigungen müssen erbauliche und sozial verbindende Hobbys, Urlaubs- und Vereinsaktivitäten aufgegeben werden.

5. Je länger die Krankheit dauert und je schwer sie ausgeprägt ist, desto wahrscheinlicher werden finanzielle Probleme durch Arbeitsunfähigkeit und hohe Therapiekosten.

6. Bei mehrfachem Therapieversagen und Verstärkung oder Verbreiterung der Symptomatik entsteht zwangsläufig die Angst vor Siechtum und Tod. Schon allein das Bewusstsein, einen gefährlichen Erreger trotz größter Anstrengungen nicht "abgeschüttelt" zu haben, kann quälen wie das Bangen eines Krebskranken, wieder ein Rezidiv zu bekommen - zumal jede weitere Therapie schädliche Nebenwirkungen zeitigt.

In dieser Situation wären eigentlich höchste Sensibilität, Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme, theoretische (z.B. zum Verstehen der Krankheit) und praktische Hilfe gefordert. Doch was im Normalfall zu solch zugewandtem Verhalten gegenüber einem Menschen motiviert, nämlich seine Liebenswürdigkeit oder die Gegenseitigkeit des Nutzens, wird gerade durch die Krankheit (scheinbar oder wirklich) zunichte gemacht. Die meisten Kranken finden sich schließlich allein mit jenen ganz wenigen Menschen wieder, von denen sie bedingungslos - oder "aus sicherer Entfernung" ziemlich konsequenzlos - geliebt werden. In eine "Spaßgesellschaft" passen sie jedenfalls nicht. Der Aktionsradius ist krass reduziert und selbst die Ernährung aus therapeutischen Gründen meist eingeschränkt (Alkohol, Koffein, Zucker, Fett).

Fast jeder Borreliosepatient in der Paracelsusklinik Hannover weiß vor diesem Hintergrund von Enttäuschungen durch Freunde, Kollegen und zum Teil engste Familienangehörige zu berichten: "Solange Du keine Schmerzen hast, dass Du Dich krümmst, stell Dich doch nicht so an!"; "Hat man überhaupt jemals bei Dir den Erreger selbst nachgewiesen?"; "Tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich hab' in letzter Zeit soviel zu tun"; "Du bist doch schon seit drei Jahren krank, das reicht mir"; "Wieso kommst Du nicht mit in die Sauna?"; "Du warst schon immer psychisch labil"; "Lange können wir sie nicht mehr bei uns beschäftigen"; "Ich kenne mehrere, die sind dann an Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben". Fortgesetzte Takt- und Verständnislosigkeiten können zusammen mit den körperlichen Leiden durchaus Suizidneigungen wecken.

Am häufigsten im Fehlverhalten sind wohl Desinteresse und die Tendenz zur (wohlmeinenden) Entmündigung, in mancher Beziehung auch zur Verschiebung der "Machtverhältnisse" unter Ausnutzung der Schwäche des Erkrankten. Ressentiments werden mit der Krankheit verquickt und alte "Rechnungen" beglichen. "Nur dort wirst du geliebt, wo Du Dich schwach zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren" formulierte Adorno den Lackmustest der Liebe - viele chronisch Kranke erfahren das eindrücklich. Die Misere beginnt beim den Pflegekräften in den Kliniken. Dort wird regelmäßig über Personalmangel geklagt, aber zwischen den Stoßzeiten des Tagesbeginns und der Essensausgabe stundenlang im Aufenthaltsraum "geklönt", statt sich mal einige Minuten am Krankenbett dem Befinden oder der Geschichte eines Patienten zu widmen. "Herzensbildung" steht bei diesem Beruf nicht auf dem Ausbildungsplan und kann aus Erziehung und Schulbildung leider nicht mehr vorausgesetzt werden. Freilich bestätigen auch hier Ausnahmen die Regel, und an denen sollten sich Kranke aufrichten.
 

Selbstverantwortung des Patienten - Krankheit als Chance

Es mag "abgegriffen klingen", doch es bleibt war: Auch schwere und psychisch zermürbende Krankheiten wie die Borreliose bergen Chancen erfüllten Lebens. Notgedrungen lernt man, sich mehr am Kleinen und Einfachen zu erfreuen: ein sonniger Morgen, ein vorwitziger Vogel auf dem Balkon, ein schmackhaftes Essen, eine gut geschlafene Nacht, ein herzliches Telefongespräch; plötzlich gewonnene Zeit, vielleicht zum Nachlesen alter Tagebüchern und Briefe oder zum Kleben von Fotoalben - mit all den aufkommenden Erinnerungen, die Anstoß zur Wiederaufnahme eines Kontakts geben; gymnastische oder meditative Übungen zur Erfahrung und Wertschätzung des eigenen Körpers; gemütliche Zeitungslektüre und Ansporn zu einem Leserbrief; Wiederentdeckung des Gebets und des Relativen allen irdischen Glücks; Dankbarkeit für die Zuwendung und Fürsorge derer, die einen lieben; Bewusstwerdung der Verantwortung, andere über eine vermeidbare Krankheit aufzuklären, solidarischer Erfahrungsaustausch und gegenseitige Beratung unter Mitpatienten. In den vielen entstandenen Selbsthilfeinitiativen für Borreliosekranke wird Großartiges geleistet und manches Defizit an ärztlicher Kompetenz ausgeglichen.

Borreliose kann im Gegensatz zu manch anderer schweren Krankheit auch noch nach Jahren durch die beharrliche Stärkung der körperlichen und seelischen Kräfte und die richtige Therapie zum richtigen Zeitpunkt geheilt oder in ihren Beschwerden gelindert werden. Niemand sollte die Selbstheilungskräfte seines Körpers unterschätzen. Insofern macht sie trotz allen Auf's und Ab's selten ganz hoffnungslos. Die wichtigsten Tugenden des Patienten sind Disziplin, positives Denken und Geduld. Wesentlich für die Heilungsaussichten sind daneben die dringend verbesserungsbedürftige medizinische Kompetenz und die sozialen Lebensumstände, zuvörderst ein harmonisches Klima des Verständnisses, der Zuwendung und der praktischen Solidarität - kurzum eine Atmosphäre der Liebe. Die Zeiten dafür mögen in unserer Gesellschaft nicht die besten sein. Doch auch diesen Teil der Wirklichkeit kann man in gewissen Umfang individuell gestalten. So können Schutzräume entstehen, in denen es sich auch unter widrigsten Umständen zu leben lohnt.



Version: 27.7.2002
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