Bundessozialgericht

Presse-Information


Die vom Bundessozialgericht herausgegebenen Presse-Vorberichte und -Mitteilungen sind keine amtlichen Veröffentlichungen, sondern nur Arbeitsunterlage für die bei diesem Gericht tätigen Journalisten.

Kassel, den 19. März 2002

Presse-Mitteilung Nr. 16/02

(zum Presse-Vorbericht Nr. 16/02)





Der 1. Senat des Bundessozialgerichts berichtet über seine Sitzung vom 19. März 2002:
 

Die Revision hat sich als unbegründet erwiesen.

 Ein Fertigarzneimittel wie das beim Kläger eingesetzte Sandoglobulin kann auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt.

 Die Zulassung eines Arzneimittels wird stets anwendungsbezogen erteilt. Für einen Einsatz außerhalb der durch die Zulassung festgelegten Anwendungsgebiete fehlt dem Präparat die Verkehrsfähigkeit, dh es darf für andere Indikationen nicht in den Handel gebracht oder verkauft werden. Das Arzneimittelrecht enthält allerdings kein generelles Anwendungsverbot, sodass der Arzt rechtlich nicht gehindert ist, auf eigene Verantwortung ein auf dem Markt verfügbares Arzneimittel für eine Therapie einzusetzen, für die es nicht zugelassen ist. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse besteht bei einem solchen Off-Label-Gebrauch aber deshalb nicht, weil für das neue Anwendungsgebiet weder die Wirksamkeit noch etwaige Risiken des Arzneimittels in dem nach dem Arzneimittelgesetz vorgeschriebenen Zulassungsverfahren geprüft worden sind.

 Dieser Mangel kann mit dem Instrumentarium des Krankenversicherungsrechts nicht ohne weiteres behoben werden. Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegen zwar im Prinzip auch Pharmakotherapien der für vertragsärztliche Leistungen in § 135 Abs1 SGBV vorgesehenen Qualitätsprüfung. Das beschränkt sich jedoch auf zulassungsfreie Rezepturarzneimittel. Soweit das Arzneimittelrecht eine Zulassung vorschreibt, ist der Nachweis der Unbedenklichkeit und der Wirksamkeit des Medikaments in dem neuen Anwendungsgebiet nach der Gesetzessystematik in dem Zulassungsverfahren und nicht im Wege der Zertifizierung durch den Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen zu führen. Es ist nicht Aufgabe des Bundesausschusses, zulassungspflichtige Arzneimittel für den Einsatz in der vertragsärztlichen Versorgung einer nochmaligen, gesonderten Begutachtung zu unterziehen und die arzneimittelrechtliche Zulassung durch eine für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung geltende Empfehlung zu ergänzen oder zu ersetzen.

 Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines Arzneimittels auf weitere Indikationen erfordert nach deutschem wie nach europäischem Arzneimittelrecht eine neue, erweiterte Zulassung. Die Zulassungsvorschriften verlören zu einem erheblichen Teil ihre Bedeutung, wenn in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Erweiterung der Anwendungsgebiete eines Arzneimittels ohne Zulassung im Verfahren nach §135 Abs1 SGBV erreicht werden könnte. Die Anwendungsbezogenheit der arzneimittelrechtlichen Zulassung stünde dann im Wesentlichen nur noch auf dem Papier.

 Andererseits besteht im medizinischen Alltag offenkundig ein dringendes Bedürfnis nach einem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln, was zeigt, dass das geltende Arzneimittelrecht seiner Aufgabenstellung teilweise nicht gerecht wird. Für den pharmazeutischen Hersteller besteht trotz Hinweisen auf einen therapeutischen Nutzen seines Arzneimittels außerhalb der bisherigen Indikation womöglich kein wirtschaftlicher Anreiz, eine Erweiterung der Zulassung zu beantragen. Es bleibt dann dem einzelnen Arzt überlassen, das Medikament oftmals ohne ausreichende pharmakologische Kenntnisse in eigener Verantwortung und mit dem Risiko der Haftung für daraus entstehende Gesundheitsschäden außerhalb der Zulassung anzuwenden. Findet der Off-Label-Gebrauch in der Praxis Verbreitung, erübrigt sich ein Zulassungsantrag des Herstellers.

 Die aufgezeigten Defizite des Arzneimittelrechts dürfen nicht dazu führen, dass den Versicherten unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien vorenthalten bleiben. Solange gesetzliche Regelungen fehlen, die eine Zulassung für weitere Anwendungsgebiete erleichtern und gegebenenfalls einen kontrollierten Off-Label-Gebrauch ermöglichen, kann die Leistungspflicht der Krankenkasse für eine Arzneitherapie außerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete deshalb nicht von vornherein verneint werden. Sie kommt jedoch aus den dargestellten Gründen nur ausnahmsweise unter engen Voraussetzungen in Betracht.

 Nachstehende Bedingungen müssen erfüllt sein:

 1. Es handelt sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung, bei der

 2. keine andere Therapie verfügbar ist und

 3. auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.

 Das Letztere bedeutet: Es müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder

§ die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder
§ außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.

 Im Fall des Klägers sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Zwar gehört die Multiple Sklerose zu den schweren Krankheiten, bei denen die Behandlung mit einem für die Indikation nicht zugelassenen Arzneimittel ausnahmsweise in Betracht käme. Es fehlen aber hinreichend gesicherte Erkenntnisse über die Wirksamkeit eines Behandlung mit Sandoglobulin. Das gilt jedenfalls für die nach den Feststellungen des LSG beim Kläger bestehende primär chronisch-progrediente Verlaufsform dieser Erkrankung. Klinische Studien, die insoweit einen therapeutischen Nutzen belegen könnten, sind nach Auswertung der verfügbaren Publikationen bis heute nicht bekannt. Die jüngst vom Paul-Ehrlich-Institut veröffentlichten Ergebnisse eines internationalen Symposiums vom November 2001 machen deutlich, dass auch für die sekundär-progressive Multiple Sklerose, für die solche Studien vorliegen, der Nutzen einer Behandlung mit Immunglobulinen kontrovers diskutiert wird, ein wissenschaftlicher Konsens hierzu also bisher nicht besteht. Hinzu kommt, dass bei dieser Verlaufsform mindestens seit 1999 eine Behandlungsalternative mit dem für die Therapie zugelassenen Betaferon zur Verfügung steht.

 SG Dortmund - S 8 KR 275/98 -
 LSG Nordrhein-Westfalen - L 5 KR   80/99 - - B 1 KR 37/00 R -



Version: 4.6.2002
Joachim Gruber
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